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InterviewPreisschock bei Erdgas: „Das volle Winterwetterrisiko liegt noch vor uns“

Die Preise für Erdgas sind im September 2021 in die Höhe geschossen. Damien Courvalin, Leiter des Energie- und Rohstoff-Research-Teams im Goldman Sachs Global Investment Research, erörtert im KnowHow-Interview die Ursachen und skizziert, welche Folgen die Preisspitzen bei Energierohstoffen nicht nur bei den Strompreisen, sondern auch für die Produktion in Industrie und Landwirtschaft haben könnten.


Damien Courvalin, Global Investment Research, Goldman Sachs

Damien Courvalin leitet den Bereich Energie im Commodity-Research-Team von Goldman Sachs. Er beobachtet die Dynamik der Rohstoffmärkte im Kontext des Risikomanagements von Unternehmen sowie kurz- und langfristige Investmentstrategien und Assetallokation. Neben Öl und Gas gehören zu seinen Themen­­-ge­bieten auch die Landwirtschaftsmärkte. Vor seiner Fokussierung auf Rohstoffe gehörte er drei Jahre lang den European-Options-Research- und Portfolio-Strategy-Teams an. Damien Courvalin begann 2006 als Associate bei Goldman Sachs und wurde 2013 zum Managing Director ernannt. Davor arbeitete er bei BNP ­Paribas als Equity Derivatives Strategist. Sein Studium schloss er 2004 mit einem MSc in den Fächern Industrial Engineering und Operations Research an der University of California und einem ME in Industrial Engineering und Economic Systems der École Centrale in Paris ab.


Die Preise für Erdgas steigen rasant an. In Europa haben sie jetzt ein Rekordniveau erreicht. Geben Sie uns etwas Kontext. Wie ist es dazu gekommen?

Damien Courvalin:  Das liegt sowohl an der Nachfrage als auch am Angebot. Wenn Sie an die Covid-Erholung denken, dann war sie ungleichmäßig. Und was die Ölnachfrage angeht, so haben wir eine deutliche Unterperformance gesehen, weil die Leute nicht geflogen sind. Aber bei der Stromnachfrage ist das Gegenteil der Fall. Die Stromnachfrage ist auf einem Rekordniveau.

Allein China verbraucht bis heute 13 Prozent mehr Strom als im letzten Jahr. Und das liegt daran, dass der wirtschaftliche Aufschwung – ­weniger Dienstleistungen, mehr Industrie, mehr Menschen, die von zu Hause aus arbeiten – eine höhere Nachfrage nach Strom nach sich zieht.

Natürlich hat auch das Angebot dazu beigetragen. Wir haben Unterbrechungen der Kohleproduktion in Ländern wie Kolumbien erlebt. Einen Rückgang der Kohlekapazitäten in China, der sich seit Jahren anbahnt. Und auch auf der Gasseite kam es zu Unterbrechungen in Ländern wie Australien oder Russland. Es ist also das Zusammentreffen dieser Nachfrage- und Angebotskräfte, das dazu geführt hat, dass die globale Gaslandschaft vor dem saisonalen Nachfragespitzenwert im Winter mit rekordverdächtig niedrigen Lagerbeständen zu kämpfen hat.

Lassen Sie uns diese Angebots- und Nachfragetreiber noch ein wenig genauer untersuchen. Warum sehen wir angesichts der hohen Preise derzeit keine größere Angebotsreaktion?

Damien Courvalin:  Das ist eine wichtige Frage. Der springende Punkt ist, dass es sich bei der Kohle- und Gasversorgung um sehr langzyklische Investitionen handelt. Es dauert fünf Jahre, ein Liquefied-Natural-Gas-Terminal (LNG-Terminal) zu bauen. Trotz des heutigen Preissignals geht es also eher um eine Substitution auf der Nachfrageseite als um eine Reaktion des Angebots.

Einige solcher Reaktionen wird es aber geben. Sie wissen, dass China zum Beispiel angekündigt hat, dass es eine höhere Kohleproduktion von einheimischen Bergleuten sehen möchte. Einige der Unterbrechungen, die wir erlebt haben, normalisieren sich. Norwegen liefert ein bisschen mehr Gas. Das Problem ist jedoch nach wie vor das Ungleichgewicht zwischen den Vorräten und der Spitzennachfrage im Winter.

Und was ist mit Russland? Gibt es die Möglichkeit, das Angebot zu erhöhen? Russland ist ein wichtiger Erdgaslieferant für Europa, haben sie das Potenzial, ihre Kapazitäten hier zu erhöhen?

Damien Courvalin:  Sie haben recht, wenn Sie auf Russland hinweisen. Sie wissen, dass Russland den Sommer über die erwarteten Gas­mengen nach Europa geliefert hat. Aber diese Mengen sind in letzter Zeit zurückgegangen. Und Russland hat auch signalisiert, dass die Exporte nach Europa bis Oktober unter dem normalen Niveau liegen werden.

Anfangs kam es tatsächlich zu Unterbrechungen. Es ist jetzt weniger klar, was der Grund für diese verringerte Leistung ist. Russland hat sich sehr dafür eingesetzt, dass Nord Stream 2, die neue Pipeline, von den Regulierungsbehörden genehmigt wird. Es möchte, dass sich die Verbraucher auf mehrjährige Verträge festlegen. Dies könnte also zu den niedrigeren Durchflussmengen beitragen. Das ist wichtig, denn als größter Lieferant Europas würden anhaltend niedrigere russische Liefermengen die Preise noch einmal deutlich in die Höhe treiben, da die Aussichten auf eine Verknappung bis zum Ende des Winters viel realistischer würden.

Russland verfügt über die Kapazität, mehr zu produzieren. Es hat diese zusätzliche Pipeline gebaut. Das könnte also eine Lösung sein, wenn die russischen Fördermengen deutlich steigen. Wahrscheinlich braucht es aber noch ein paar Abmachungen, um zu einem Ergebnis zu kommen, sodass die Aussichten für die Gasversorgung Europas in den nächsten Monaten sehr volatil und unsicher sind.

Sie erwähnten auch die Möglichkeit einer Substitution von Erdgas durch Öl als Reaktion auf die Versorgungsengpässe. Das könnte den Druck etwas mindern. Inwieweit ist diese ­Kapazität vorhanden? Inwieweit glauben Sie, dass sich die ­Situation dadurch verbessern könnte?

Damien Courvalin:  Zunächst einmal ist es wichtig zu betonen, dass die Energiemärkte nicht zuletzt auch Substitutionsmärkte sind. Man kann Strom aus Gas, Strom aus Kohle, Strom aus Öl erzeugen. In der Regel ist Kohle die billigste Lösung. Dann geht man zu Gas über. In der Vergangenheit haben wir Öl verwendet, aber das ist jetzt eine sehr teure Lösung. Aber wenn man bedenkt, dass es heute sowohl bei Kohle als auch bei Gas Engpässe gibt, müssen wir tatsächlich etwas Öl verbrennen. Und wenn man bedenkt, wie hoch die Gaspreise heute sind, dann haben sie ein Niveau erreicht, auf dem es dazu kommen sollte.

Und so sehen wir, wie sich das auswirkt. Vor allem in Asien gibt es ­Anzeichen dafür. Das kann zu einer Entlastung von etwa 2 BCFs pro Tag führen (BCF: Billion Cubic Feet), was etwas weniger wäre als eine Standardabweichung in einem kalten Winter in Europa und Asien. Aber es ist kein reibungsloser Prozess. Die Verbrennung von Öl zur Stromerzeugung ist in der Regel eine sogenannte Spitzenlastlösung. Es ­handelt sich um ein paar Tage am Ende des Winters. Wir haben noch nie erlebt, dass wir bereits im September, Oktober auf diese ­Lösung zurückgreifen müssten.

Ich möchte also betonen: Ja, wir greifen nach der letzten möglichen Substitution. Aber das Potenzial, das Problem zu lösen, ist einfach nicht so groß. Das bedeutet, dass das wirkliche Risiko in Zukunft Stromausfälle und Engpässe sein werden.

Und natürlich wird das Wetter eine Menge damit zu tun haben. Geben Sie uns ein Gefühl für die Szenarien hier. Wenn der Winter kälter wird als erwartet, was würde das für diese Prognose und das Potenzial für Stromausfälle bedeuten?

Damien Courvalin:  Zunächst einmal sollten wir hervorheben, dass wir noch nicht im Winter sind. Die Tatsache, dass die Preise heute so hoch sind, spiegelt nur die potenziellen Wetterrisiken im kommenden Winter wider. Wenn der Winter durchschnittlich ist, kommen wir damit zurecht. Wir haben heute genug Gas auf Lager, es sei denn, Russland drosselt die Durchflussmengen wirklich anhaltend. Aber da das Wetter unbeständig ist, muss der Markt dieses Risiko heute widerspiegeln. Wenn wir einen um eine Standardabweichung kälteren Winter haben, dann müssen wir, wie ich schon sagte, den Ölmarkt in Anspruch nehmen. Wir sind also womöglich an einem Punkt, an dem wir eine Knappheit bei Gas wirklich austesten. Das bedeutet, dass uns am Ende des Winters, d.h. im Februar und März, das Gas für die Stromversorgung ausgehen könnte. Das ist ein echtes Risiko, das wir noch nicht ausschließen können. Die Wettervorhersagen umfassen nur zwei Wochen. Das volle Winterwetterrisiko liegt also noch vor uns.

Wie viel Aufwärtspotenzial gäbe es in diesem Szenario für die Erdgaspreise? Und wie viel Aufwärtspotenzial gäbe es für die Ölpreise?

Damien Courvalin:  Es gibt keinen Präzedenzfall für diese Situation. Die Gaspreise sind auf einem Rekordhoch. Ich habe bereits erwähnt, dass die letzte rationale Substitution die durch Öl ist. Und diese Schwelle haben wir überschritten. Der letzte Schritt nach oben ist also derjenige, der die Nachfrage vertilgt. Das ist der klassische Fall bei Rohstoffen: Wenn das Angebot nicht ausreicht, kann die Nachfrage nicht gedeckt werden. Das kann zwei Formen annehmen. Die erste ist die industrielle Aktivität. Die Gaspreise in Europa würden so hoch sein, dass die europäische Industrie auf dem Weltmarkt nicht mehr wettbewerbsfähig ist. Oder nehmen Sie die Verknappungen, die sich in der Düngemittelbranche im Vereinigten Königreich kürzlich angekündigt haben. Andere Sektoren, die davon betroffen sein könnten, wären zum Beispiel die Stahlindustrie, die Papierindustrie und andere Sektoren mit hohem Gasverbrauch. Das ist wahrscheinlich das erste Risiko, das Sie im Hinblick auf die nächste Nachfrageanpassung sehen.

Und das letzte ist natürlich das, was wir jüngst in China gesehen haben, nämlich Stromausfälle. Stromabschaltungen, weil es keinen Brennstoff gibt. Das ist heute nicht mehr der Fall. Wir gehen auf den Winter zu. Wir haben den saisonalen Höchststand der Lagerbestände erreicht. Sie sind allerdings sehr niedrig. Aber wenn wir durch den Winter kommen, sollten wir das im Auge behalten.


„Um Anreize für Investitionen zu schaffen, braucht es einen viel höheren Rohstoffpreis. Ein Beispiel dafür ist, dass der Ölpreis den höchsten Stand seit 2018 erreicht hat. Aber die Aktienkurse der Ölproduzenten befinden sich immer noch auf einem niedrigen Niveau.“

Damien Courvalin, Global Investment Research, Goldman Sachs


Und dann hören wir auch Schlagzeilen über Benzinknappheit. Benzinknappheit in Großbritannien. Steht das im Zusammenhang mit dem, was wir bei Erdgas beobachten? Oder ist das etwas völlig anderes?

Damien Courvalin: Das ist etwas völlig anderes. Wir wissen, dass Öl im Defizit ist. Aber wir befinden uns nicht auf einem historisch niedrigen ­Niveau der Lagerbestände. Wir könnten es sein, sind es aber noch nicht. Vielmehr spiegelt sich hier ein Phänomen wider, das wir schon anderswo gesehen haben, nämlich logistische Engpässe, insbesondere bei den Lkw-Fahrern. Das Problem in Groß­britannien ist also der Transport des Kraftstoffs vom Verteilerterminal zu den Zapfsäulen. Und das spiegelt einen weltweiten Mangel an Lkw-Fahrern wider. Im Falle Großbritanniens hat sich die Situation durch den Brexit wahrscheinlich noch verschärft, da weniger Lkw-Fahrer zur Verfügung stehen. Aber wie ­gesagt, das hat nichts mit Gas zu tun. Und dieser Lkw-Mangel beim Transport ist es, der letztendlich den globalen logistischen Stress verursacht, den unsere Volkswirtschaften gerade durchmachen.

Es ist also eine Art Pech, dass wir diese Benzinknappheit zur gleichen Zeit haben wie die Erdgasknappheit?

Damien Courvalin:  Ganz genau. Das hängt nicht zusammen. Vielleicht gibt es eine Verwechslung der Gaspreise mit denen von Erdgas oder Benzin. Aber letzten Endes sollte sich die Öl-Benzin-Knappheit in den kommenden Wochen normalisieren, wenn die britische Regierung reagiert.

Gut. Das ist zumindest eine gute Nachricht. Aber im Zusammenhang mit der Erdgasknappheit, die wir beobachten, sehen wir auch andere Knappheiten im gesamten Rohstoffkomplex bei Aluminium und Kupfer. Korrigieren Sie mich, wenn ich falsch liege, aber das hängt mit der Erdgasknappheit zusammen. Und wohin wird sich das entwickeln?

Damien Courvalin:  Bemerkenswert ist hier, dass die Gasknappheit erstens symptomatisch für den allgemeinen Trend bei Rohstoffen ist, nämlich für die starke Nachfrage und die mangelnde Investition in das Angebot. Und zweitens kann sich der Gasmangel tatsächlich auf andere Rohstoffmärkte auswirken.

Beginnen wir also mit der strukturellen Komponente. Covid war ein Schlag für die Wirtschaftstätigkeit und damit für den Rohstoffverbrauch. Die Erholung außerhalb des Ölsektors war tatsächlich spektakulär. Die Nachfrage nach Metallen liegt bereits über dem Niveau von vor der Covid-19-Pandemie. Das gilt auch für die Stromnachfrage. Die Verbraucherausgaben sind dank der staatlichen Unterstützung stark gestiegen.

Und jetzt liegt der Schwerpunkt auch auf den Infrastrukturausgaben. Politische Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels erfordern eine Menge Infrastruktur. Und politische Maßnahmen zur Verringerung der Einkommensungleichheit fördern ebenfalls einen höheren Konsum.

Die Lage auf der Angebotsseite ist älter als Covid-19. Wenn Sie sich zum Beispiel den Ölmarkt ansehen, dann haben Sie zwischen 2015 und 2019 eine ständige Kapitalvernichtung durch Produzenten erlebt, die sich darauf konzentrierten, die Produktion um jeden Preis aufrechtzuerhalten, anstatt Unternehmensrenditen zu erwirtschaften. Das hat dazu geführt, dass die Anleger zögerten, in Rohstoffunternehmen zu investieren. Es wurde in den letzten Jahren einfach zu wenig investiert. Und jetzt, wo wir diese Investitionen benötigen würden, müssen wir erkennen, dass es einen viel höheren Rohstoffpreis braucht, um einen Anreiz für Investitionen zu schaffen. Ein Beispiel dafür ist, dass der Ölpreis den höchsten Stand seit 2018 erreicht hat. Aber die Aktienkurse der Ölproduzenten befinden sich immer noch auf einem niedrigen Niveau. Sie haben immer noch nicht das Signal, tatsächlich mehr zu tun.

Was die eher kurzfristige Verfügbarkeit von Erdgas angeht, so ist es ein Rohstoff für Schlüsselindustrien. Es ist eine Energiequelle in China. Wir werden also lokal begrenzte Engpässe sehen. Zum Beispiel bei Düngemitteln, was sich auf die Lebensmittelpreise im nächsten Jahr auswirken wird. Auch bei Aluminium und Stahl. Und wenn man sich jetzt den gesamten Rohstoffkomplex ansieht, haben wir seit Mitte letzten Jahres bei so ziemlich jedem einzelnen Rohstoff ein Defizit.

Wir erleben bereits eine sehr hohe Inflation in den großen Volkswirtschaften. Wie wird sich dieser Rohstoffausblick auf die Annahme auswirken, dass dies alles nur vorübergehend ist? Glauben Sie, dass die Inflation dadurch längerfristig angekurbelt werden könnte?

Damien Courvalin:  Es gibt viele bewegliche Teile. Sie wissen, dass der Schock der Erdgaspreise, der sich in den Stromkosten niederschlägt, sich auf die Gesamtinflation auswirken wird. Unsere Wirtschaftswissenschaftler schätzten, dass der Anstieg auf 25 Dollar pro MMBtu* die europäische Gesamtinflation im nächsten Jahr um 25 Basispunkte ­erhöhen würde. Nun sind die Preise seither um weitere 30 Prozent ­gestiegen, sodass Sie sehen können, wie sich diese Aufwärtsrisiken aufbauen.

Auch wenn Sie dies heute beim Gas sehen, dürfen Sie nicht vergessen, dass es nur langsam von den Großhandelspreisen auf die Einzelhandelspreise durchschlägt. In Frankreich wird es bis April eine Obergrenze für die Strompreise geben. In Deutschland erfolgt die Weitergabe nur langsam. Es gibt eigentlich nur ein paar Länder wie Spanien und Italien, in denen das jetzt schon der Fall ist. Sie wissen also bereits, dass der Schock mindestens in der ersten Hälfte des Jahres 2022 kommen wird.

Ich habe die Lebensmittelpreise erwähnt. Der Mangel an Düngemitteln wird die Aussaat im nächsten Frühjahr beeinträchtigen. Das wirkt sich also auf die Lebensmittelpreise für das ganze Jahr 2022 aus. Und da dies natürlich saisonal bedingt ist, deuten die Auswirkungen in unserer Prognose auf sinkende Energiepreise im nächsten Jahr hin. Da es sich aber auch um ein strukturelles und anhaltendes Problem handelt, sind die Risiken einer weiteren Verknappung im nächsten Winter durchaus real. Und wenn der Winter kalt ist, könnten wir im nächsten Sommer mit immer noch historisch hohen Energiepreisen dastehen. Ich denke also, dass der Schlüssel hier ist, dass der Schock von erheb­lichem Ausmaß ist.

Er geht mit einer Verzögerung vorbei, ist also vorübergehend, ja. Aber wir sprechen immer noch von einer Auswirkung von sechs bis zu zwölf Monaten. Und das Risiko eines erneuten Schocks in der Zukunft ist ziemlich hoch, da wir keines der strukturellen Probleme wirklich lösen können.


„Erneuerbare Energien helfen. Aber es braucht Zeit, sie zu skalieren. Sie sind unstetig. Das zeigt, dass wir bei der Energiewende noch viel Öl und Gas brauchen. Und dass diese Energieträger angesicht ihrer Bedeutung einen höheren Preis erforderlich machen.“

Damien Courvalin, Global Investment Research, Goldman Sachs


Und wie sieht es mit den Auswirkungen auf das Wirtschaftswachstum aus?

Damien Courvalin:  Die wirtschaftlichen Auswirkungen ergeben sich in erster Linie aus dem Rückgang des Verbrauchereinkommens aufgrund höherer Stromrechnungen. Unsere Wirtschaftsexperten schätzen, dass eine Erhöhung der Gaspreise auf 25 Dollar das BIP-Wachstum für ein Jahr um etwa zwei Zehntel Prozent schmälern wird. Wie ich bereits erwähnt habe, sind die Gaspreise nun weiter gestiegen. Und das eigentliche Risiko ist das, was wir jetzt in China sehen, wo unsere Ökonomen wegen der Energieknappheit die Wachstumsprognose für Ende 2021 und ­Anfang 2022 um ein Prozent senken mussten. Das ist das eigentliche Risiko für das Wirtschaftswachstum. Nicht so sehr die Preise an sich, sondern der Punkt, an dem man einfach nicht mehr in der Lage ist, Strom zu erzeugen, und das Wirtschaftswachstum viel geringer ausfallen muss. Noch ist es nicht so weit, ich betone noch einmal, in Europa. Aber es ist ein Risiko, das man in Zukunft nicht ausschließen kann.

Im Großen und Ganzen geht es um den breiteren Vorstoß zur Dekarbonisierung, und wir hören so viel über die Umstellung auf erneuerbare Energien. Wie Sie schon sagten, ist die ­Produktion von fossilen Brennstoffen wie Kohle begrenzt. Wie wird sich die aktuelle Energiekrise auf die Energiewende auswirken?

Damien Courvalin:  Es gibt zwei Komponenten. Die erste, und Kohle ist das Beispiel, zeigt, dass ein zu schneller Ausstieg aus der Produktion dessen, was wir heute verbrauchen, seien es Kohle oder Gas oder Öl, ziemlich gefährlich ist, da wir diese Rohstoffe weiterhin verbrauchen. Bei der Energiewende muss es also viel mehr darum gehen, die Nachfrageseite zu beeinflussen, als schon heute auf die Angebotsseite zu bauen.

Ich nehme die Kohle als Beispiel. Jeder wusste, dass die Nachfrage nach Kohle zurückgehen würde. Das führte zu einem drastischen Rückgang der Investitionen in den vorgelagerten Bergbau. Und heute notieren die Kohlepreise auf einem Rekordhoch. Der zweite Kernpunkt ist, dass die Internalisierung unserer Kohlenstoffemissionen kostspielig ist. Wir haben jahrhundertelang ohne diese Überlegung gehandelt. Und heute, da wir den Kohlenstoffgehalt und die Emissionen als Folgen unseres Handelns berücksichtigen müssen, erweist sich dies als ziemlich teuer. Erneuerbare Energien helfen. Aber es braucht Zeit, sie zu skalieren. Sie sind unstetig. Das macht deutlich, dass wir bei dieser Energiewende noch viel Öl und viel Gas brauchen. Und dass diese Energieträger angesicht ihrer Bedeutung einen höheren Preis erforderlich machen. Die Krise im Energiewinter könnte zeigen, wie teuer die Umstellung ist.

Welche Auswirkungen hat das auf die Investoren? Wird es Gewinner und Verlierer geben? Sie erwähnten die niedrigen Renditen, mit denen die traditionellen Ölproduzenten konfrontiert sind.

Damien Courvalin:  Das ist eine wichtige Frage. Aus der Sicht des Ölmarktes und der Gasproduzenten bedeutet dies, dass die Anleger ihr Portfolio wieder stärker in den Vordergrund rücken müssen, da die Produktion dieser Industrien für das globale Wirtschaftswachstum nach wie vor wichtig ist.

Das bedeutet, dass wahrscheinlich weitere Investitionen im Bereich LNG erforderlich sind. Das ist ein langer Investitionszyklus. Und jetzt brauchen wir eindeutig mehr Kapazität. Das bedeutet auch, dass die Dekarbonisierung von Öl und Gas als ­etablierte Energiequelle wichtig sein wird. Dies könnte durch die Abscheidung von Kohlendioxid geschehen und erfordert letztlich eine ­Lösung. Und schließlich, wie kürzlich in Europa deutlich wurde, bringt die Abhängigkeit von erneuerbaren Energien auch Probleme mit sich, etwa wenn kein Wind weht, keine Sonne scheint oder nicht genügend Wasser und Regen vorhanden sind. Daher ist die Speicherung auch ein Schlüssel zur Ermöglichung der Energiewende hin zu einer viel stärkeren Nutzung erneuerbarer Energien.

Wenn Sie einen Blick in die Zukunft werfen, scheinen Sie mit hohen Energiepreisen zu rechnen. Und das wird sich in diesem Winter letztlich in höheren Gas- und Stromrechnungen niederschlagen. Die Frage ist also, wie hoch? Geben Sie uns ein Gefühl für Ihre Prognose und dafür, wie sich das Ihrer Meinung nach auf die Verbraucher auswirken wird.

Damien Courvalin:  Das Risiko liegt hier wirklich in der hohen Vola­tilität, die wir für die Zukunft erwarten. Jedes Land hat auf der Stromseite verschiedene Durchleitungsmechanismen. Aber wir sprechen hier von zehn bis 20 Prozent potenziellen Auswirkungen auf die Verbraucherpreise für Strom im nächsten Jahr. Inwieweit das an die Verbraucher weitergegeben wird, ist angesichts möglicher Eingriffe der Regierungen bei der Festlegung der Strompreise weniger klar.

Ist das etwas, was wir jetzt gerade sehen?

Damien Courvalin:  Es hat bereits begonnen. Sie haben es in Spanien gesehen. Sie haben es in Frankreich gesehen. Und das verschärft die Sorgen der politischen Entscheidungsträger über diesen zusätzlichen Inflationsschock noch weiter.

Es gibt einen Markt, über den wir nicht so viel gesprochen haben. Es ist der Ölmarkt. Er ist von der Energiekrise noch nicht so stark betroffen. Es gibt eine gewisse, aber nicht allzu große Substitution. Aber wir glauben, dass die Ölpreise in Zukunft deutlich ansteigen werden. Unsere Prognose für das Ende dieses Jahres liegt bei 90 Dollar. Und da Öl ein wichtiger Rohstoff für viele andere Industrien ist, dürfte dies auch zu einem weiteren Anstieg der Gesamtinflation beitragen.

Und wie der Gasmarkt gezeigt hat, werden sich die Ursachen für den prognostizierten höheren Ölpreis, nämlich unzureichende Investitionen bei starker Nachfrage, in Zukunft nur noch verstärken. Ich denke, das ist der Markt, den man im Auge behalten sollte. Sicher, vielleicht gibt es dieses Jahr einen milden Winter. Vielleicht wird alles schnell wieder in Ordnung gebracht. Der Ölmarkt ist jedoch auf dem besten Weg, einen strukturellen Bullenmarkt zu beginnen. Ich denke, dass ­Investoren und politische Entscheidungsträger sich dessen bewusst sein sollten­.


* MMBtu: Million British Thermal Units, eine Einheit zur Messung des Gasverbrauchs; entspricht 26,4 Standardkubikmetern Gas.

Der Podcast „The Impact of Rising Natural Gas Prices“ erschien am 5. Oktober 2021 in der Rubrik Insights, Exchanges at Goldman Sachs, auf www.goldmansachs.com. Das Gespräch wurde am Freitag, dem 1. Oktober 2021, aufgezeichnet. Die Fragen stellte Allison Nathan, Goldman Sachs.


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Fotonachweise: Adobe Stock – Bild 1: Maksym Yemelyanov, Bild 2: peterschreiber.media

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